Hybris am Berg

Funktionelle Bergsport- und Outdoor-Bekleidung und auch Ausrüstung ist schon lange „in“ und dahinter stecken Heerscharen von Ingenieuren und sonstigen Spezialisten, die nichts anderes tun, als zu forschen und zu entwickeln. Ich weiß das nur zu gut, da ich einmal bei einem internationalen Sportartikelkonzern tätig war und in den französischen Alpen am Fuße des grandiosen Mont Blanc zum Produktexperten und Trainer für Bergsport- und Outdoorausrüstung ausgebildet wurde und dort sehr tiefe Einblicke in die ganze Entwicklung und Produktion erhalten habe.

Zugegeben: Es ist wirklich unglaublich, was sich da in nur wenigen Jahrzehnten alles getan hat und vieles ist auch wirklich toll und wir dürfen uns glücklich schätzen, dass es diese Dinge gibt!

Nur so als Beispiel: Mein Vater hat heute noch seinen alten Rucksack, mit welchem er in den 70er auch Viertausender bestieg. Schaut man sich diesen Rucksack heute an, bekommt man alleine vom Anblick schon Schmerzen! Alleine was sich da an Komfort bei Gurten und Tragegestellen getan hat, will man heute nicht mehr missen! Aber auch Zelte, Isomatten und Schlafsäcke sind heute so funktionell, leicht und klein, dass man da de facto keine Probleme mehr beim Packen und Tragen hat. Ich habe das selbst im Laufe der Jahre bei meiner eigenen Ausrüstung bemerkt; Lud ich vor gerade mal 25 Jahren Zelt, Isomatte und Schlafsack in mein Auto, war der Kofferraum beinahe schon voll und die Sachen hatten ein unglaubliches Gewicht! Heute hingegen bekomme ich die gesamte Campingausrüstung samt Gaskocher und Geschirr nebst Klamotten locker in meinem Trekkinrucksack unter und der lässt sich dann sogar noch angenehm tragen. Die Bergsteiger und Outdoorsman vergangener Zeiten kann man also durchaus respektvoll als Harte Hunde bezeichnen…!

Ja, es ist wirklich toll, was sich da getan hat und vieles erleichtert uns das Abenteuerleben wirklich ungemein. Dennoch dürfen wir die andere Seite der Medaille nicht übersehen: Diese tollen Hightech Ausrüstungen wiegen uns auch oft in trügerischer Sicherheit und treiben nicht wenige dazu, sich selber maßlos zu überschätzen. Denn diese tolle Ausrüstung ersetzt uns niemals Können, Erfahrung und Kondition und gerade im Bergsportbereich können Bergretter und andere Einsatzkräfte so viele Lieder davon singen, dass sich schon ein eigener Chor rentieren würde! Ich selber habe da schon zahllose und wirklich irre Erlebnisse gehabt bei denen ich mehrfach erleben konnte, wie weit sich viele Menschen eigentlich von der Natur und sogar sich selber entfernt haben. Grandiose Ausrüstung, Wetter-, Touren- und Sport-Apps sind ja gut und schön; Aber wenn man sich einzig auf diese Dinge verlässt – was leider viel zu viele tun – so wird einem das sehr schnell zum Verhängnis und endet sogar immer wieder tödlich! Dem kommt noch hinzu, dass so viele völlig falsch, wenn überhaupt ausgerüstet, auf Berge steigen, was die ganze Situation noch einmal verschärft. Turnschuhe, Sandalen, ja sogar Flipflops sind zu einem häufigen Anblick in den Bergen geworden und selbst wenn man wenigstens annähernd richtig ausgerüstet ist, bedeutet dies keinesfalls automatisch Erfolg und Sicherheit.

So hatte ich einmal folgendes Erlebnis:

Ich machte eine „Aufwärmwanderung“ auf einen rund 2200 Meter hohen Berg. Diese war technisch so einfach, dass sie für meine Verhältnisse beinahe als Spaziergang durchgehen könnte.

Etwa 100 Meter unter dem Gipfel fand ich am Wegesrand zwei Frauen vor, Mutter und Tochter, die tatsächlich erste Anzeichen von Höhenkrankheit zeigten. Zunächst war ich völlig ungläubig und dachte mir, dass das auf dieser Höhe, die ja für uns Bergtrolle regelrecht lächerlich erscheinen mag gar nicht sein könne! Jedoch stellte sich heraus, dass die beiden aus dem flachen Norddeutschland, also Meeresniveau kamen, Tags zuvor erst angereist und noch nie in ihrem Leben im Gebirge waren. Zwar war ihr Zustand nicht lebensbedrohlich, aber er zeigte deutlich, dass das, was für einen Bergsteiger wie mich, der auch in den Alpen aufwuchs, nur ein Spaziergang ist, für andere ganz schnell in einer gefährlichen Situation enden kann! Die beiden Damen waren übrigens für die Verhältnisse der Tour ausreichend ausgerüstet, was ihnen aber nichts brachte, da ihre Körper schlicht nicht mitmachten! In übertragenem Sinne: Nur weil ich mir gute Laufschuhe gekauft habe, werde ich alleine dadurch keinen Marathon bestreiten können…

Diese Problematik ist leider alljährlich vom Everest bis zum Matterhorn und noch weit darunter zu sehen. Leichtsinnige Menschen gab es zwar auch früher schon, aber dieser unüberlegte Leichtsinn hat in den letzten Jahrzehnten überdeutlich zugenommen. Das liegt aber nicht nur an der guten Ausrüstung, die uns in trügerischer Sicherheit wiegen kann, sondern durchaus auch an den Sozialen Medien, wo in zehntausenden Posts suggeriert wird, man könne mal eben schnell da rauf um ein cooles Selfie zu machen.

Bevor wir uns also in die Berge oder die Wildnis begeben, sollten wir ehrlich zu uns selbst sein und kritisch hinterfragen, ob wir dem Abenteuer auch wirklich in jeder Hinsicht gewachsen sind, damit wir durch unseren Leichtsinn nicht unnötig und gewissenlos andere, vor allem Einsatzkräfte, in Gefahr begeben und gerade ich als ehemaliger Notfallsanitäter verstehe da auch keinen Spaß und mein Mitleid bei entsprechenden selbst verschuldeten Unfällen und misslichen Lagen hält sich da in einem überschaubaren Rahmen, so schlimm das jetzt auch klingen mag. Viel mehr leid tun mir da Bergretter und Hubschrauber Crews, die ihr Leben dafür riskieren, diese Leute dann irgendwo rauszufischen. Meiner Meinung nach gehört da einmal eine bessere gesetzliche Regelung her, die es den Versicherungen leichter macht, Einsatzkosten bei nachweislich selbst verschuldeten Unfällen auf den „Kunden“ abzuwälzen. Denn leider scheinen immer mehr Leute nur noch über den Geldbeutel zur Vernunft zu bringen zu sein und wenn man bedenkt, dass alleine die Betriebsminute (da wird die gesamte Einsatzzeit und nicht nur die Flugzeit gerechnet!) eines Rettungshubschraubers rund 55 Euro kostet, kann man sich vorstellen, dass da schnell Summen zustandekommen, die beim „Kunden“ einen bleibenden Eindruck hinterlassen würden.

Viele Menschen haben einfach keine Vorstellung davon, was sie in der Wildnis, oder auch in größeren Höhen erwarten kann. So hatte ich einmal einen Kunden (in meiner Tätigkeit für besagten Konzern), der mit einfachen, leichten Sommerwanderschuhen in der Hand aus dem Schuhgang zu mir kam und mich fragte, ob diese Schuhe geeignet wären für eine Wanderung.

Da ich mir schon längst eine Art Abfrageschema zurechtgelegt hatte, stellte sich recht schnell heraus, dass der gute Man in einer Woche nach Peru und Bolivien fliegen wollte und eine Anden-Tour gebucht hatte, bei der er sich eine Woche lang durchschnittlich auf rund 5000 Metern Seehöhe aufhalten würde nebst „Wanderungen“ in diesem Gebiet! Dass der Mann nicht einmal hier bei uns Wandererfahrung gemacht hatte, setzte dem ganzen noch die Krone auf.

Ganz verdattert war er, als ich ihm sagte, dass weder die Schuhe, noch der Rest in seinem Einkaufskorb für seine Reise geeignet sind. Er versuchte zwar zu argumentieren, dass es ja keine Bergbesteigungen wären, die auf dem Programm stünden, aber als ich ihm dann bewusst einige Schauermärchen über Höhenkrankheit (die er mit Sicherheit bekommen würde) erzählte und er merkte, dass ich nicht nur Verkäufer, sondern auch erfahrener Bergsteiger bin, fingen ihm sichtlich die Knie das Schlottern an. Dennoch versuchte er dauernd, preisgünstigere Produkte, die aber für sein Abenteuer gänzlich ungeeignet waren, für sein Vorhaben zu beanspruchen. Irgendwann gab er mir zu verstehen, dass er meine Beratung nicht länger benötigen würde und ich trollte mich.

Trotz Bemühungen seiner Freundin, die mir bei allem beigepflichtet hatte, zeigte er sich beratungsresistent und aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie er die ursprünglich ausgewählten, aber völlig ungeeigneten Bekleidungsstücke und Schuhe wieder in seinen Korb lud und zur Kasse ging…

Ob er sein Abenteuer in den Anden überlebt hat, weiß ich nicht, aber ich nehme es einmal an. Aber er wird mit Sicherheit sein Lehrgeld bezahlt haben und dabei an mich und meine Worte gedacht haben! Mit diesem Extrembeispiel wollte ich nur ersichtlich machen, dass wir, besonders dann, wenn wir keinerlei Erfahrungen haben, vielleicht doch auf jemanden hören sollten, der sich auskennt. Auch wenn die Anden in gewissen Gebieten so schön hügelig, grün und einfach erscheinen mögen; Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass sich diese Hügel auf einer Höhe befinden, die höher ist als unsere Alpengipfel. Das ist eine Höhe, auf welcher sogar die Einheimischen, die dort geboren und aufgewachsen sind, teilweise Probleme haben, weshalb sie dauernd Kokablätter kauen, da diese die Symptome der Höhenkrankheit, vor allem Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerzen lindern. Im Vergleich sind wir hier ja wirkliche Flachlandindianer und können uns ja gerne mal ausmalen, wie es uns dort ergeht, wenn schon die Eingeborenen dort unter der Höhe leiden können! Selbiges gilt natürlich auch für andere Länder…

Ein Erlebnis noch zum Abschluss: Ich traue mich heute kaum noch zu erzählen, wie unsereins vor 25 oder 30 Jahren noch einen Klettersteig gegangen ist; Zum einen waren die damaligen Klettersteige nur recht dürftig gesichert und zum anderen gingen wir diese Steige damals noch völlig ohne Sicherung, da es Klettersteigsets und Ähnliches schlicht nicht gab. So haarsträubend das heute auch klingt; Aber damals wurden die Steige meist nur von denen durchklettert, die es auch wirklich konnten, da die noch nicht erhältliche Ausrüstung leichtsinnige Gipfelaspiranten dann doch noch genügend abzuschrecken schien. Dadurch passierte aber im Schnitt weit weniger als heute. Denn heutzutage sind viele „Wannabes“ zwar mit einem Klettersteigset und Helm quasi gesichert, dafür aber mit Turnschuhen, Sandalen und sogar Flipflops in der Wand unterwegs. Paart sich das dann noch mit mangelnder Kondition, Schwindel und Höhenangst, so war’s das dann, der Stau entsteht und die Bergrettung, oder gar der Hubschrauber dürfen diese Leute dann aus der Wand fischen. Den Vogel abgeschossen hat hier meiner Meinung nach mal ein Mann, der mit kurzer Hose, Turnschuhen, Cityrucksack und Paketschnur am Gürtel als „Sicherung“ die Watzmann-Überschreitung machen wollte. Ob er es überlebt hat, entzieht sich aber meiner Kenntnis…

Und was will ich mit diesem langen Artikel nun eigentlich aussagen?

Recht einfach: Man sollte auch mit guter Ausrüstung (sofern vorhanden) diese und sich selbst nicht überschätzen! Jeder von uns sollte sich vor einem Abenteuer Gedanken darüber machen, was ihn erwarten könnte. Selbst ich, der seit beinahe 40 Jahren aktiv in Wildnis und Bergen unterwegs ist, mache das vor jeder Tour! Zwar packe ich meinen Rucksack, oder auch mein Reisegepäck quasi längst im Schlaf, aber ich mache mir dennoch meine Gedanken; Ich checke genau das Wetter, bedenke die Jahreszeit, mache mir klar, dass ein lauer, frühsommerlicher Tag unten im Tal keineswegs bedeutet, auf 2500, oder gar 3500 Meter Seehöhe die gleichen Verhältnisse vorzufinden und entsprechend gestaltet sich dann der Inhalt meines Rucksacks. Auch wenn das bei mir längst automatisierte Abläufe sind, da ich das ja schon ein paar Mal gemacht habe und ich über diese eigentlich nicht mehr bewusst nachdenke, so habe ich für längere Touren und Reisen trotzdem noch immer meine Checklisten. Denn auch der Erfahrenste und Routinierteste vergisst gerne mal was. Gerade weil es einem dann so selbstverständlich erscheint. Und nach meinem Abenteuer überprüfe ich gleich wieder alles, mache alles sauber und es kommt an seinen eigens bestimmten Ort, sodass ich das nächste Mal einfach nur wieder packen muss.